75 Jahre Kriegsende – Gelderner Bürger erzählen…. Eine Zeitzeugenbefragung von Schülern des Leistungskurses Geschichte am Lise-Meitner-Gymnasiums Geldern

75 Jahre ist es nun her, dass der Zweite Weltkrieg mit Millionen von Opfern zu Ende ging und Deutschland von zwölf Jahren Nationalsozialismus befreit wurde. Unsere Heimatstadt Geldern lag, wie weite Teile des Niederrheins, in Schutt und Asche und der Krieg war mit voller Wucht dorthin zurückgekommen, von wo aus er begonnen wurde.

Jahr für Jahr lernen Tausende deutscher Schüler die geschichtlichen Hintergründe, Geschehnisse und Verbrechen dieser Epoche, von den Lehrer didaktisch aufbereitet und über Quellen und Darstellungen unterschiedlichster Art und Weise nahegebracht. Doch wie fühlte es sich an, als junger Mensch in dieser Zeit zu leben? Was könnten damals 16-Jährige heutigen 16-Jährigen von diesen Tagen berichten?

Dies stellt die Grundfrage unseres kleinen Zeitzeugenprojektes dar. Als uns über den „Historischen Verein für Geldern und Umgegend“  die Anfrage von Herrn Jos Peeters erreichte, waren die Schüler meines Leistungskurses sehr angetan von der Idee, sich mit den letzten lebenden Zeitzeugen zusammenzusetzen und diese dunkle Zeit aus einer unmittelbareren Perspektive „erzählt“ zu bekommen. Schnell wurden Zeitzeugen ausfindig gemacht, Termine vereinbart und Interviews geführt. Leider kamen die Ereignisse und Beschränkungen rund um das Covid-19-Virus dem Projekt etwas in die Quere.

Die folgenden Ausführungen spiegeln diese Zeitzeugengespräche wieder und orientieren sich an gemeinsam erarbeiteten Leitfragen, die den Fokus der Gespräche steuern sollten. Von besonderem Interesse war für die Schülerinnen und Schüler hier der erlebte Alltag der damals jugendlichen Zeitzeugen. Wie lebte es sich in den letzten Kriegsmonaten am Niederrhein? Was prägte das Leben dieser Monate? Welche Erinnerungen an den Bombenkrieg sind bis heute präsent? Wie erlebte man die alliierten Soldaten?

Paul Bürgers, damals 16 Jahre alt, lebte im Jahr 1945 auf einem Bauernhof in Hartefeld. Noch vor der Bombardierung Gelderns am 14. Februar wurde er mit seiner Familie in ein Dorf bei Arnsberg evakuiert, wo er den Einmarsch der Amerikaner erlebte. „Wir hatten große Angst vor den nahenden Truppen“, so Bürgers, „aber das waren alles sehr anständige und nette Menschen.“ Nach dem Ende kehrte auch Paul Bürgers zurück in die Heimat. Mit einem Soldaten aus Kempen machte er sich zu Fuß auf den Weg nach Geldern, man übernachtete in verlassenen und zerschossenen Häusern. Zu Hause angekommen, war der Hof der Familie fast zur Hälfte zerstört. Die Wehrmacht hatte nach der Evakuierung der Bevölkerung einen Funkposten auf dem elterlichen Hof eingerichtet, der dann während eines Angriffs getroffen und zerstört wurde.

Auch Margrit Schmid, damals 11 Jahre alt, befand sich bis zur Evakuierung in Geldern. An die ersten Bombardierungen im Jahr 1944 kann sie sich noch gut erinnern. „Wir waren mit der Familie gerade auf dem Weg nach Walbeck, um meine Großmutter zu besuchen. Da folgen alliierte Jagdflieger in großer Geschwindigkeit direkt über uns hinweg. An diesem Tag hatte ich das erste Mal wirklich Angst.“ Jedoch flüchtete die Familie in einen Straßengraben und konnte sich vor den Fliegern verstecken. „In Geldern“, so erinnert sich Margrit Schmidt, „mussten die Menschen ab Sonnenuntergang die Stadt verdunkeln.“ So verbrachte sie selbst viele Nächte im Keller des Hauses ihrer Familie, dass sich „Am Brühl“ befand. „Besonders in dieser Zeitspanne“, sagt sie, „fühlte man sich eigentlich nie sicher. Die lauten Motorengeräusche der Flugzeuge versetzten uns jedes Mal in Angst.“

Als vermehrte Angriffe auf die Umgebung verübt wurden, gab es „fast jeden Abend einen Alarm“, so M. Schmidt. Zu Fuß gingen Kinder und Mutter zum Mühlenturm, neben dem sich unterirdisch in den Kasematten der Luftschutzbunker für die Zivilbevölkerung befand. Manchmal, so Margrit Schmidt, ging ihre Mutter tagsüber für ein paar Stunden aus dem Bunker und holte Kleidung und Essen. In den Kasematten selbst fühlte sich Margrit Schmidt sicher und fügt hinzu, dass man von dem Bomben weniger gehört habe. Eine Sache, an die sich Margrit Schmidt besonders gut erinnern kann, ist ein Flugblatt mit der Aufschrift: „Geldern und Goch, wir kriegen euch doch!“. Außerdem erzählten sich später Freunde von ihr von weiteren Flugblättern mit der Aufschrift: „Krefelder macht euch in die Wälder, sonst geht‘s euch wie den Kölnern!“.

Im Jahr 1944 wurde sie wie viele andere Gelderner evakuiert. Während der Fahrt nach Hildesheim kam es zu einem Fliegerangriff auf den Zug: „„Die Erwachsenen versuchten uns mit Geschichten zu beruhigen. Es seien deutsche Flugzeuge.  Dies war aber nur eine Lüge und ein Gerücht. Nachdem der Zug stehengeblieben war, rannte mein kleinerer Bruder Willi aus dem Zug und keiner konnte ihn stoppen. Ein Wunder, dass keinem an diesem Tag etwas passiert ist!“. Schließlich erreichte der Zug mit den 50-70 evakuierten Menschen aus Geldern sein Ziel.

Die erste Begegnung mit den Alliierten machte Margrit Schmidt in Bierbergen. Dort kann sie sich noch erinnern, hatten die Menschen erst Angst vor den Amerikanern.

Der Krieg und vor allem die Bombardierungen waren nun vorbei. Trotzdem sagt sie:

„Ich war froh, dass ich nun keine Soldaten mehr sah.“.

Die Heimkehr nach Geldern von Bierbergen dauerte zehn Tage. Margrit Schmidt erinnert sich, dass sie den größten Teil dieser Strecke zu Fuß zurücklegten. Außerdem wurden die Menschen in einem Bunker nähe Kempen durch eine Schleuse geschickt und wurden „entlaust“.

Heinz Bosch war im Jahr 1944 fünfzehn Jahre alt. Der Gelderner Stadthistoriker und Ehrenvorsitzende des „Historischen Vereins für Geldern und Umgegend e.V.“ war bis kurz nach dem Bombenangriff am 14. Februar als Melder und Luftbeobachter auf dem Mühlenturm eingesetzt.  Nach der Zerstörung der Stadt ging es für Bosch in den Raum Hannover. Dorthin war bereits seine Familie evakuiert worden. Er beschrieb es als großes Glück, aus Geldern fliehen zu können, nachdem er alle Angriffe auf seine Heimatstadt miterlebt hatte. Sein Vater war bereits 1942 an einem Herzinfarkt gestorben, während seine Mutter und seine Schwester schon im September 1944 evakuiert wurden.

„Wirklichen Alltag gab es im Jahr 1945 nicht mehr. Es war in Geldern ja nicht mehr viel los“, so Bosch auf die Frage, wie sich das Leben in Geldern gegen Ende des Krieges angefühlt habe. An zwei Anekdoten erinnert er sich. Die aus zwölf Männern bestehende Besatzung des Mühlenturms, wo eine Fliegerabwehrkanone installiert war, musste natürlich auch versorgt werden. Die Männer mussten Vieh zu einer Küche außerhalb der Stadt auf der Weseler Straße bringen. „Als Gegenleistung wurden wir bestens versorgt“, erinnert sich Bosch mit einem Lächeln.

Zwei dieser Köchinnen waren Gerta Selders (geb. Tissen) und ihre Schwester Sibylle. Gerta Tissen, damals 16 Jahre alt: „Wir arbeiteten in einer Küche im Keller der Villa von Eerde. Jeden Tag kam jemand der Soldaten vom Mühlenturm, um das Mittagessen abzuholen.“ Bosch berichtet außerdem vom Skifahren im Winter 1944/45. „Der Winter war ein sehr kalter Winter und so holten die in Geldern verbliebenen Menschen ihre Skier aus dem Keller, um damit durch die Stadt zu laufen.“ Für den Niederrheiner eine recht seltene Beschäftigung. „Voraussetzung dafür war natürlich, dass gerade keine Gefahr durch Bombenangriffe herrschte“, fügte Bosch hinzu.

Die eigentlichen Evakuierungsmaßnahmen ab September 1944 habe er aufgrund seines Verbleibs in Geldern nicht selbst miterlebt, so dass er hier auf Berichte anderer Gelderner Bürger zurückgreifen musste. Die Situation vor der Evakuierung beschreibt Bosch als „komplettes Durcheinander“. Als klar war, dass die Stadt evakuiert werden würde, hätten sich die Bürger in Listen eintragen lassen können, um mit dem Zug aus der Stadt gebracht werden zu können. Aufgrund der chaotischen Situation sei dies aber gar nicht mehr zum Tragen gekommen, da es nicht mehr registriert wurde. So seien große Menschenmengen zum Ost-Bahnhof geströmt, in der Hoffnung, einen Zug zu erreichen. Diese Züge hatten ausreichend Kapazitäten, durften allerdings nur nachts fahren, da sonst ein zu hohes Risiko bestand, beschossen zu werden. „Es mussten natürlich aber auch Menschen in Geldern bleiben. Hierzu zählten Handwerker oder Telefonistinnen der Post.“

Bosch erinnert sich an den 22. Oktober 1944, als die ersten gezielten Bomben auf Geldern fielen: „Wir wollten den Alarmknopf drücken, welcher normalerweise eine laute Alarmsirene auslöste. Aufgrund eines Stromausfalls funktionierte diese aber nicht.“ So wurden viele Menschen in der Stadt nicht gewarnt, was viele Tote zur Folge hatte.

Gerta Selders schaudert es noch heute, wenn sie an den Bombenangriff am 14. Februar denkt: „Ich weiß es noch wie heute. Ich hatte in Geldern bei Schawinsky zwei Kannen mit Milch gekauft und fuhr mit dem Fahrrad zurück zur Villa von Eerde, als die ersten Bomben fielen. Ich stürzte mit dem Fahrrad und verlor dabei auch die beiden Kannen mit Milch. Von der Treppe der Villa von Eerde aus beobachteten wir dann die totale Zerstörung Gelderns. Es war fruchtbar. Und eigenartigerweise muss ich bis heute noch oft an die beiden Kannen mit Milch denken.“

Heinz Bosch war zu an diesem Tag im Mühlenturm und bekam den Auftrag, zur Gelderner Feuerwehr zu fahren. „Dort wurde allerdings ein Volltreffer gelandet!“, so Bosch. Alle in der Wache befindlichen Menschen waren schon tot. Also sollte er nach Nieukerk eilen, um die Krefelder Feuerwehr zu benachrichtigen. Bosch wurde auf dem Fahrrad losgeschickt, da dies unauffälliger schien. Auf dem Weg entdeckte er zusammen mit zwei Kameraden einen LKW mit deutschen Soldaten. Bosch erzählte, dass es eigentlich strikt untersagt war, tagsüber mit dem Auto zu fahren, aufgrund der Gefahr durch Flugzeuge der Alliierten. So kam es dazu, dass der junge Bosch noch auf dem weiteren Weg nach Nieukerk zwei Flieger näherkommen sah, mit anschließendem sekundenlangem Dauerfeuer. Er habe schon geahnt, was wohl das Ziel dieses Angriffs darstellte.

Nachdem die Berufsfeuerwehr in Krefeld alarmiert war, kam Bosch mit dieser zurück an die Stelle, wo er vorher den LKW gesehen hatte. „Und dann lagen da nur noch die verkohlten und verstümmelten Leichen herum, manche sogar ohne Kopf“, erinnerte sich Bosch. Während er die Krefelder Feuerwehrmänner dann auf der Krefelder Straße kurz vor der Stadt abholen sollte, war nochmal ein kleiner Angriff auf die Bahnübergänge am Holländer See, nicht weit von dort. „Die Männer der Feuerwehr sprangen vor Schreck in sogenannte „Ein-Mann-Löcher“ am Rand der Straße, welche zum Schutz dienten. An diesem Tage waren diese Löcher aber voll mit Wasser, weshalb die Männer furchtbar herumfluchten. Das werde ich nie im Leben vergessen“, lachte Bosch.

Er selbst blieb bis zur Zerstörung Gelderns in der Stadt, bevor er dann auch in den Raum Hannover nach Hildesheim aufbrach.

Gerta Selders wurde nach der Bombardierung mit ihrer Schwester Sibylle nach Hoerstgen geschickt. Sie erinnert sich noch gut an den Weg über Issum nach Hoerstgen. „Wir fuhren mit dem Rad. Kurz vor Issum waren links der Straße viele notdürftig bestattete, eher verscharrte Gräber zu von Menschen zu sehen. Das Bild geht mir bis heute nicht aus dem Kopf. Aus der Erde schaute der Stiefel eines Toten hervor.“. In Hoerstgen angekommen wurde man in einer Gastwirtschaft untergebracht und sorgte tagsüber weiterhin für die Versorgung der verbliebenen Männer.  Hier kam es dann auch zum ersten Zusammentreffen mit den Amerikanern. „Wir standen mit erhobenen Händen in der Tür, als ein Panzer vorgefahren kam. Die GI´s saßen und standen auf diesem Panzer, als uns ein Offizier lautstark fragte, wer hier denn Englisch sprechen würde. Meine Schwester Sibylle, die in der Schule zwei Jahre lang Englisch gelernt hatte, meldete sich. Der Offizier half ihr auf den Panzer und dann fuhren sie davon.“ Am Abend kehrte Gerta Selders´ Schwester wieder zurück. Sie hatte bei kleineren Übersetzungsarbeiten helfen müssen. Über die Amerikaner weiß sie nur Positives zu berichten. „Sie waren sehr höflich und nett zu uns. Mir ist nicht bekannt, dass es bei uns auch nur ansatzweise zu Übergriffen gekommen ist.“ Wenige Tage später kehrt sie mit ihrer Familie zurück nach Geldern-Veert.

„So etwas müsste man eigentlich viel häufiger machen. Menschen haben so viel zu sagen und zu berichten, das ist lehrreicher als so manche Unterrichtsstunde.“ Die Schüler waren nach den Interviews zutiefst beeindruckt und bewegt von den erlebten Stunden. „Wir hatten für das Interview eine Stunde eingeplant, aber wir waren den gesamten Nachmittag dort und hätten auch noch länger bleiben können.“

Einmal mehr wurde auch hier deutlich, wie wichtig und gewinnbringend Zeitzeugenarbeit für junge Menschen ist. Geschichte wird unmittelbarer und auch greifbarer. Menschen, die sich im achten oder neunten Lebensjahrzehnt befinden, erzählen und berichten Jugendlichen von ihrer eigenen Jugend zu einer Zeit, die so gar nicht mit dem Alltag der heutigen Jugend zu vergleichen ist. Krieg, Tod und Not auf der einen – Frieden, Freiheit und Wohlstand auf der anderen Seite. Und das alles verbunden mit dem Auftrag, nie wieder einer solch verbrecherischen und menschenverachtenden Ideologie wie dem Nationalsozialismus Raum und Unterstützung zukommen zu lassen, macht diese kleinen Interviews zu einer Geschichtsstunde der etwas anderen, wahrscheinlich sogar nachhaltigeren Art.

Wir möchten uns herzlich für die Möglichkeit, einen kleinen Beitrag zu Ihrem Projekt beisteuern zu dürfen, bedanken. Dies ist nicht selbstverständlich.

Mit herzlichen Grüßen aus Geldern.

Daniel Bauke, Yasar Kahraman, Jan Molderings, Julian Liehr, Alexander Sieger und Peter Wagener

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